DIE WARNUNG DES WISSENSCHAFTSFILOSOPHEN BRUNO LATOUR
„Nichts lässt sich auf etwas anderes reduzieren“
Bruno Latour
In der Osteopathie dürfen wir wissenschaftliche Referenzketten nicht mit Ketten der praktischen Lehre vermischen: Ein wissenschaftliches Modell bezieht seine Gültigkeit aus der Solidität der Verbindungen, die die gemessenen Phänomene mit ihren Darstellungen verknüpfen, während eine phänomenologische Karte ihre Gültigkeit aus ihrer Fähigkeit bezieht, die Aufmerksamkeit und Praxis der Osteopathen zu verändern. Diese beiden Systeme zu verwechseln, kommt einer Änderung der Spielregeln mitten im Spiel gleich.
Vor welchem Kategorienfehler warnt uns Bruno Latour?
Jedes Äußerungssystem hat seine eigenen „Bedingungen der Glückseligkeit”, d. h. der Validierung der Kriterien.
Im REF-Modus (wissenschaftliche Referenzkette) lautet die entscheidende Frage: Entspricht die Aufzeichnung (die durchgeführte Messung: Grafik, Bild, Zahl, Formel...) dem, was festgestellt wurde?
In einem phänomenologischen pädagogischen System (ähnlich den Modi HAB, Modus der Existenz der Gewohnheit, oder PRE, Modus der Existenz des Präpositionalen/Prädikativen bei Bruno Latour. Weitere Informationen zu den Moden der Existenz finden Sie weiter unten) lautet die Frage: Verstärkt diese Karte die Wahrnehmungsfähigkeit des Praktikers? Die Erfolgskriterien sind also nicht dieselben; Sätze existieren nur innerhalb ihres Regimes vollständig.
Die moderne „Reinigung” ist eine kostspielige Illusion.
Latour zeigt, dass der Versuch, alle nützlichen Diskurse in das wissenschaftliche Regime zu integrieren, entweder zu einer Verarmung der Praxis führt (indem beispielsweise das für die Osteopathie erforderliche sensible Training geleugnet wird) oder die Wissenschaft mit Aufgaben überlastet, die sie nicht erfüllen kann (die Beschreibung der Erfahrung des Abtastens).
Karten und Territorien sind keine Rivalen, sondern ergänzen sich.
Das wissenschaftliche Modell liefert eine metrische Projektion (welche Kräfte, welche Gewebe, welche objektivierbaren Korrelationen).
Die phänomenologische Karte liefert eine praxische Projektion (wohin die Aufmerksamkeit gelenkt werden soll, welche sensorischen Kontraste gepflegt werden sollen, welche Empfindungen). Der Wechsel von einer zur anderen ist wie ein Wechsel des Navigationsinstruments; der Versuch, sie zu überlagern, entspricht dem Lesen einer Straßenkarte auf einem Sextanten.
Praktische Konsequenzen für die osteopathische Ausbildung
Den didaktischen Vertrag klarstellen: Dem Studenten ausdrücklich mitteilen, wann man sich auf wissenschaftliche Begründungen (Beweise, Statistiken, Biomechanik) stützt und wann man ihm eine Wahrnehmungsübung vorschlägt, deren Wert pragmatisch und formativ ist und sich mit der Erfahrung weiterentwickelt.
Pluralität ohne implizite Hierarchie respektieren: Anerkennen, dass eine phänomenologische Karte keine „Billigwissenschaft” ist, sondern ein internes Werkzeug einer anderen Existenzweise mit ihrer eigenen Ernsthaftigkeit und ihren eigenen Grenzen.
Artikulieren statt vereinheitlichen: Brücken schlagen (Workshops, Reflexionsprotokolle), die es ermöglichen, vom wissenschaftlichen Diskurs zum phänomenologischen Diskurs überzugehen, ohne sie zu vermischen, genau wie man je nach Fragestellung vom Mikroskop zum Stethoskop wechselt. Unser PROJET BONE , die Resonanz-Tage und die Arbeiten von C.O.R.P.U.S , die die SOFA seit vielen Jahren organisiert, streben somit eher nach Artikulation als nach Vereinheitlichung.
Indem wir Latour folgen, vermeiden wir den Kategorienfehler: die Versuchung, die Relevanz einer phänomenologischen Karte mit den Kriterien der wissenschaftlichen Darstellung zu beurteilen oder umgekehrt von der Wissenschaft zu verlangen, die Rolle eines Lehrmeisters der Wahrnehmung zu übernehmen.
Bei Bruno Latour sind Existenzweisen unterschiedliche Regime, durch die Dinge existieren, bekannt sind und als „wahr” oder „erfolgreich” bezeichnet werden können. Er entwickelt sie in An Inquiry into Modes of Existence (2012) – oft abgekürzt als AIME. Jede Existenzweise hat ihre eigenen Validierungsregeln, ihre eigenen Objekte und ihre eigenen Wege. Es handelt sich um verschiedene Arten, in der Welt zu sein.
Hier ist die Bedeutung von HAB und PRE:
HAB – Modus der Gewohnheit
Beschreibung: Dieser Modus betrifft alles, was mit verinnerlichtem Verhalten, erlernten Gesten, alltäglichen Fertigkeiten und dem Körper zu tun hat, der ohne nachzudenken weiß.
Seinsart: Eine durch Reproduktion fortbestehende Existenz. Es handelt sich um Routinen, unausgesprochenes Know-how, verinnerlichte Seinsweisen.
Bedingung für Glückseligkeit (Erfolgskriterium): Es funktioniert, solange die Geste „hält”, sich wiederholt, solange es eine ununterbrochene Kontinuität in der Praxis gibt.
Beispiel in der Osteopathie: Die Geste, die die Gewebespannung „findet”, ohne dass eine explizite Analyse erforderlich ist. Die Hand weiß es, weil sie es wiederholt hat.
PRE – Existenzweise des Präpositionalen / Prädikativen
Beschreibt: Diese Art ist die des Diskurses, der Aussagen, der Formulierung. Sie betrifft die Art und Weise, wie Sprache Sätze konstruiert, nicht als feststehende Aussagen, sondern als Arten, die Welt darzustellen.
Seinsart: Ein Satz ist ein Versuch, etwas zu formulieren, das im Kontext der Sprache auf seine Validierung wartet.
Bedingung für Glückseligkeit: Gehört, aufgenommen und in einer interpretierenden Gemeinschaft diskutiert werden. Das Gesagte wird durch seine Wiederholung und Verbreitung konsistent.
Beispiel aus der Osteopathie: Wenn ein Lehrer ein inneres Bild, eine Metapher, ein anzustrebendes Gefühl beschreibt, handelt es sich nicht um eine wissenschaftliche Tatsache, sondern um eine Aussage, die sich an die Wahrnehmung des anderen richtet.
Warum das wichtig ist
Latour betont, dass es nicht nur einen einzigen gültigen Modus (den wissenschaftlichen Modus REF) gibt, sondern eine Vielzahl von Existenzregimen, die sich nicht ohne Verlust ineinander übersetzen lassen.
In der Osteopathie:
Die Vermittlung von Wahrnehmung gehört vor allem zu den Modi HAB und PRE.
Die wissenschaftliche Forschung gehört zum Modus REF (Referenz).
Wenn man sie wahllos verwechselt oder hierarchisiert, riskiert man, die Kohärenz jeder Welt zu zerstören.
Der Modus REF (für Referenz) ist nach Bruno Latour der der modernen Wissenschaft eigene Existenzmodus. Er bezeichnet die spezifische Art und Weise, in der wissenschaftliche Aussagen durch Vermittlungsketten Wahrheit und Robustheit erzeugen.
Definition des Modus REF (Referenz)
Gegenstand: Die natürliche Welt, wie sie durch die Wissenschaft stabilisiert wird.
Art der Existenz: Das, was durch festgelegte Referenzketten konstruiert wird, d. h. eine Reihe von Schritten, die es ermöglichen, ein Phänomen aus der Praxis (z. B. ein Gewebe, eine Bewegung, ein Verhalten) in eine stabile Aufzeichnung (Grafik, Bild, Zahl, Formel...) zu übersetzen.
Bedingung für die Gültigkeit (Gültigkeitskriterium): Die Kontinuität und Genauigkeit der Kette zwischen dem beobachteten Phänomen und der endgültigen Aussage. Wichtig ist, dass jeder Schritt es ermöglicht, bis zum Phänomen zurückzuverfolgen, so wie man einer Spur folgt.
Beispiel aus der wissenschaftlichen Praxis
Nehmen wir eine Gelenkentzündung:
Ein Osteopath erhebt Daten (Abtasten, Beobachtung).
Ein Biologe misst die Konzentration von Zytokinen.
Ein Biochemiker trägt sie in ein Diagramm ein.
Ein Artikel veröffentlicht die Interpretation der Daten.
Jeder Schritt ist eine Aufzeichnung (durch ein Instrument, ein Verfahren, eine Rede). Damit das Wissen wissenschaftlich (REF) ist, müssen diese Aufzeichnungen überprüfbar und wiederholbar sein: Man muss die Kette zurückverfolgen können.
Bedeutung des REF-Modus bei Latour
Latour leugnet weder den Wert noch die Macht der Wissenschaft, sondern betont ihre spezifischen Bedingungen. Im Gegensatz zur klassischen Sichtweise, dass die Wissenschaft „die Realität entdeckt”, behauptet Latour:
Die Wissenschaft erzeugt robuste Entitäten, indem sie einer strengen Methode folgt, aber es sind die Produktionsketten selbst, die ihre Gültigkeit begründen.
Wesentliche Unterscheidung
Der REF-Modus betrifft nicht die direkte Erfahrung, die Subjektivität oder die unmittelbare Empfindung: Er zielt darauf ab, objektivierbare, vom Körper losgelöste, übertragbare Darstellungen zu erzeugen.
Er steht daher methodisch (aber nicht wertmäßig) im Gegensatz zu den Modi HAB (Inkorporation, Geste) und PRE (Vorschlag, verkörpertes Wort), die in manuellen Praktiken wie der Osteopathie sehr präsent sind.
Schlussfolgerung Es geht nicht darum zu sagen, dass alles relativ ist, sondern dass alles relativ zu fest etablierten Ketten, gut konstruierten Welten und gut erlernten Gesten ist.
Was in der Wissenschaft als Wahrheit gilt, gilt nicht unbedingt auch in der Pflege, und was heilt, lässt sich nicht immer beweisen.
Dieser ausgezeichnete Podcast von France Culture ist eine gute Einführung in das Denken von Bruno Latour:
Wichtige Bibliografie von Bruno Latour
La science en action (1987)
Wissenschaft in Aktion. Wie zu folgen ist, wenn Fakten hergestellt werden. Traduction : Gustav Roßler. Éditeur : Suhrkamp Verlag, Francfort, 2002. ISBN : 978-3518292181.
Ein grundlegendes Werk, um zu verstehen, wie wissenschaftliche Fakten konstruiert und nicht einfach „entdeckt” werden.
Themen: Konstruktion von Fakten, Netzwerke von Akteuren, Einschreibungen, Labore.
Wir waren nie modern (1991)
Wir sind nie modern gewesen. Versuch einer symmetrischen Anthropologie. Traduction : Gustav Roßler. Akademie Verlag, Berlin, 1995 ; rééd. Suhrkamp, 2008. ISBN : 978-3518294611.
Latour dekonstruiert darin die moderne Trennung zwischen Natur und Gesellschaft. Sehr nützlich, um Osteopathie als hybride Praxis zu betrachten.
Themen: Reinigung, Hybride, Kritik der Moderne.
Pandora’s Hope: Essays on the Reality of Science Studies (1999)
Die Hoffnung der Pandora. Untersuchungen zur Wirklichkeit der Wissenschaft. Traduction : Gustav Roßler. Suhrkamp Verlag, 2000. ISBN : 978-3518582968.
Klare und erzählerische Essays darüber, wie die Wissenschaft die Realität „konstruiert”. Enthält sehr aussagekräftige konkrete Berichte.
Themen: Referenzketten, pragmatischer Realismus.
Une enquête sur les modes d’existence (2012)
Existenzweisen. Eine Anthropologie der Modernen. Traduction : Achim Russer & Bernd Schwibs. Suhrkamp, Berlin, 2014. ISBN : 978-3518296469.
Das Werk, das seine Theorie der verschiedenen Wahrheitsregime (darunter REF, HAB, PRE) systematisiert.
Themen: Pluralität der Welten, Validierung, Erfahrung, Wissensdiplomatie.
Petites leçons de sociologie des sciences (1996)
Ein kurzes, pädagogisches und leicht verständliches Werk, das eine gute Einführung in die Methode Latouris bietet.
Themen: Akteure, Dispositive, Labor.